Vergessene Orte des Holocaust in Ostpolen. Bericht über die Studienfahrt nach Lublin (29.04. – 04.05.2017)
Vor fast 75 Jahren, im Frühjahr 1942, begannen die deutschen Besatzer mit der systematischen Ermordung der polnischen Jüdinnen und Juden im damaligen „Generalgouvernement“. Hunderttausende Männer, Frauen und Kinder wurden aus den Ghettos in die eigens eingerichteten Mordlager verschleppt: nach Chełmno, Treblinka, Sobibór, Bełżec. Anders als Auschwitz, dem internationalen Symbol für den Holocaust, sind diese Tatorte heute nur wenigen ein Begriff, sie spielen eine untergeordnete Rolle in der deutschen (wie auch in der polnischen) Erinnerungskultur. So ist kaum bekannt, dass auch zehntausende deutsche Jüdinnen und Juden Opfer dieser Mordaktion wurden. Sie waren zwischen März und Juni 1942 aus dem Deutschen Reich in die Region Lublin verschleppt worden. Darunter befanden sich auch rund 2.000 Menschen aus den Regierungsbezirken Arnsberg und Düsseldorf.
Dies nahmen die Mahn- und Gedenkstätte Steinwache (Dortmund) und der Erinnerungsort Alter Schlachthof zum Anlass, gemeinsam mit dem Bildungswerk Stanislaw Hantz, das seit mehr als 18 Jahren in der Erinnerungs- und Bildungsarbeit in der Region Lublin aktiv ist, eine gemeinsame Studienfahrt zu organisieren. Sie fand freundliche Unterstützung durch das Polnische Institut Düsseldorf, den IBB (Dortmund), die Bethe-Stiftung, die Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf, den AStA der Hochschule Düsseldorf und die Bezirksregierungen Arnsberg und Dortmund. 42 Teilnehmer*innen erkundeten gemeinsam die „vergessenen Orte“ des Holocausts in der Region Lublin, unter ihnen zahlreiche Lehrer*innen, Studierende und im außerschulischen Bildungsbereich tätige Kolleg*innen – begleitet wurden sie vom Fotografen Sugata Tyler (HSD/FB Design) und vom Dokumentarfilmer Marcel Kolvenbach, der an einem Filmprojekt über den Erinnerungsort arbeitet.
Drei Deportationen aus den Regierungsbezirken Düsseldorf und Arnsberg
Die rund 2.000 Menschen aus den Regierungsbezirken Düsseldorf und Arnsberg wurden in drei Deportationen in den Distrikt Lublin verschleppt. Zwei Transporte – über die „Sammelstellen“ Düsseldorfer Schlachthof (22.4.1942) und Dortmund (28.4.1942) – endeten in den „Transitghettos“ Izbica und Zamość. Unter ihnen befand sich beispielsweise der 20jährige Essener Ernst Krombach. Seine mit Hilfe eines Wehrmachtsangehörigen heimlich aus dem Ghetto Izbica geschmuggelten Briefe an seine Verlobte Marianne sind bis heute einzigartige Lebenszeichen aus Izbica:
„Das Strafgesetzbuch ist schnell zu erzählen: Todesstrafe. Henkersleute, die die Armen herausschleppen und zum Teil auch ausfindig machen, sind Juden. Verboten ist hier alles und die Strafe wie oben erwähnt [...]. In der Zwischenzeit sind nun schon viele Transporte hier abgegangen. Von ca. 14.000 hier angekommenen Juden sind heute nur noch ca. 2–3.000 da. Diese Leute gehen mit noch weniger in Viehwagen und schärfster Behandlung hier los, d. h. mit dem, was sie am Leibe tragen. [...] Gehört hat man von diesen Leuten nie mehr etwas.“ (Roseman, Mark: In einem unbewachten Augenblick. Eine Frau überlebt im Untergrund, Berlin, Aufbau-Verlag, 2002, S. 232.)
Soweit die Verschleppten hier nicht aufgrund der dort herrschenden katastrophalen Bedingungen ums Leben kamen, wurden sie in den nahe gelegenen Vernichtungslagern Bełżec oder Sobibór ermordet. In einem dritten Transport verschleppte die Gestapo am 15.6.1942 1.003 Menschen aus den Regierungsbezirken Koblenz, Köln, Aachen und Düsseldorf in das Mordlager Sobibór. Niemand der Deportierten überlebte.
Erinnerungskultur in der Region Lublin
In den Gedenkstätten der Region Lublin trifft man auf keine großen Besuchermassen. Nur etwa 140.000 Menschen besuchen jährlich Majdanek, Bełżec und Sobibór – dies sind etwa 10% der Besucher*innen der Gedenkstätte in Auschwitz. Dabei war es in dieser Region, in der die deutschen Besatzer im März 1942 im Rahmen der "Aktion Reinhardt" den Massenmord an den polnischen Jüdinnen und Juden in Gang setzten. Innerhalb nur eines Jahres ermordeten deutsche SS- und Polizeieinheiten fast 2 Millionen Menschen. Der Historiker Stephan Lehnstaedt bezeichnete die „Aktion Reinhardt“ deswegen mit Recht als den „Kern des Holocaust“.
Der Name „Aktion Reinhardt“ geht zurück auf Reinhard Heydrich, den Chef des „Reichssicherheitshauptamtes“, der NS-Terror-Zentrale in Berlin, einen der Hauptverantwortlichen für die Organisation des Massenmords an den europäischen Juden. Im Juni 1942 hatten tschechische Widerstandskämpfer auf Heydrich, der zu dieser Zeit auch „Generalgouverneur“ im „Protektorat Böhmen und Mähren“ war, ein Attentat verübt, an dessen Folgen er kurz darauf starb.
Doch nach dem Krieg wurden die Vernichtungslager der „Aktion Reinhardt“ zu „vergessenen Orten“. Dies lag zum einen daran, dass die deutschen Täter alles daran gesetzt hatten, möglichst viele Spuren ihrer Verbrechen zu beseitigen, bevor sie von der Roten Armee aus dem Land getrieben wurden. Zum anderen stand der Massenmord an der jüdischen Bevölkerung weder im kommunistischen Polen noch in der Zeit nach 1989 im Mittelpunkt der polnischen Erinnerungskultur. Darüber hinaus leb(t)en nur noch wenige Jüdinnen und Juden in Polen, viele Überlebende emigrierten nach dem Krieg bzw. in den 1960er Jahren wegen des anhaltenden Antisemitismus. Mit Ausnahme von Majdanek entstanden Gedenkstätten an den Standorten dieser Lager erst in den 1960er Jahren. Bei allen Schwierigkeiten ist seit einigen Jahren ein deutlicher Wandel der polnischen Erinnerungskultur erkennbar: So wurde die Gedenkstätte in Bełżec wurde 2004 komplett neu gestaltet und modernisiert, die Gedenkstätte in Sobibór wird derzeit umgebaut. Seit Anfang der 1990er Jahre rekonstruiert und dokumentiert das aus nichtstaatlicher Initiative entstandene Museumsprojekt „Teatr NN“ in bewundernswerter Weise die Geschichte des jüdischen Lublin.
Besichtigt wurden nicht nur das Konzentrations- und Vernichtungslager Majdanek, die beiden genannten „Transitghettos“ und die „Vernichtungslager“ Bełżec und Sobibór, in denen zusammen mindestens 750.000 Menschen ermordet wurden. Den Organisatoren der Fahrt lag vor allem daran, den gesamten Ablauf und die Hintergründe dieses ungeheuerlichen Mordprogramms der „Aktion Reinhardt“ anschaulich zu vermitteln, von seinem Beginn im März 1942 im damaligen Ghetto Lublin bis zu seinem Abschluss, der von den Mördern zynisch so bezeichneten „Aktion Erntefest“ am 3./4.11.1943. An nur zwei Tagen ermordeten deutsche SS- und Polizeieinheiten im KZ Majdanek sowie den Zwangsarbeitslagern Poniatowa und Trawniki insgesamt 42.000 Menschen – es war dies die größte Massenexekution während des Zweiten Weltkriegs überhaupt.
Viele Gebäude, die Behörden und Institutionen beherbergten, die eine große Bedeutung im damaligen, arbeitsteilig organisierten Mordprozess hatten, sind heute noch erhalten. Doch es fehlen heute Hinweise auf ihre damalige Funktion: die Distriktverwaltung Lublin, die an den „Aussiedlungen“ der jüdischen Bevölkerung (also: am Massenmord) aktiv beteiligt war; der „Flugplatz Lublin“ – Zwangsarbeitslager und Umschlagplatz Hunderttausender Güter, die den in den „Distrikt Lublin“ Deportierten zuvor geraubt worden waren; die SS-Standortverwaltung, die die geraubten Güter erfasste und verwertete; schließlich die Zentrale des SS- und Polizeiführers Lublin (Odilo Globocnik), in der ein kleiner Stab von nur 5 Menschen die Morde koordinierte. Aufgedeckt wurde bei diesen Stadtrundgängen durch Lublin nicht nur, wie reibungslos das arbeitsteilige Netzwerk der Täter*innen funktionierte, sondern auch, wie viele der immerhin 4.000 deutschen Angehörigen der deutschen Besatzungsverwaltung am Massenmord beteiligt waren oder zumindest Kenntnis darüber besaßen. Dies aber leugneten fast alle Beteiligten nach 1945, von denen nur sehr wenige überhaupt zur Rechenschaft gezogen wurden.
Gedenken an die Ermordeten
Das wesentliche Ziel der Studienfahrt bestand darin, dieses Wissen zu verbreitern und den im Bildungsbereich tätigen Kolleg*innen Materialien und Ideen für weitere Fahrten und Projekte zur Verfügung zu stellen. Es war den Organisatoren aber auch ein Anliegen, 75 Jahre nach den Deportationen in sichtbarer Weise an die aus unseren Regionen verschleppten Menschen zu erinnern. So legten die Teilnehmer*innen der Fahrt in der Gedenkstätte Bełżec zwei Kränze zum Andenken an die Ermordeten nieder. Ein weiterer Gedenkstein fand seinen Platz in der „Gedenkallee“ in der Gedenkstätte Sobibór, zu Ehren der am 15.6.1942 hierhin deportierten und ermordeten Menschen. Die Kränze und der Gedenkstein wurden von den Bezirksregierungen Arnsberg und Düsseldorf gestiftet.
Fotos
An der Gedenkstätte in Bełżec legten die Teilnehmer*innen zwei Kränze nieder, um an die hier ermordeten
Menschen zu erinnern. Die Kränze wurden von den Bezirksregierungen Arnsberg und Düsseldorf gestiftet.
Rund um das Feld sind die Namen der Städte und Regionen aus Polen und anderen europäischen
Ländern verzeichnet, aus denen die Ermordeten kamen.
Blick auf die 2004 neu gestaltete Gedenkstätte in Bełżec. Das riesige Schlackefeld markiert die Topographie des früheren
Lagers und symbolisiert die mehr als 500.000 hier ermordeten Menschen. Der Gang in der Mitte (der Schlauch“)
symbolisiert den damaligen Weg der Menschen zu den Gaskammern.
Ein noch original erhaltenes Gebäude des damaligen SS-Wachpersonals, in unmittelbarer Nähe des Lagergeländes in Bełżec.
Es soll restauriert werden, damit mehr Raum für Bildungsarbeit zur Verfügung steht. Das Bildungswerk Stanislaw Hantz bemüht
sich seit Jahren darum. Siehe hier zu nähere Informationen sowie eine neue Publikation.
Das heute verwaiste Gelände des früheren jüdischen Zwangsarbeitslagers „Flugplatz“ in Lublin, direkt
an den Bahngeleisen gelegen. Hier stoppten die Deportationszüge, bevor sie in die Mordlager
weiterfuhren. Das Gepäck der Verschleppten wurde hier geraubt, sortiert und ins Deutsche Reich
zurückgeschickt. Im Hintergrund rechts: das damalige Haus des SS-Mörders Christian Wirth,
einer der Haupttäter der „Aktion Reinhardt“.
Bahnhof in Sobibór. Hier kamen die Züge aus den umliegenden Städten und Ghettos an, aber auch
zahlreiche Transporte aus Westeuropa. Die Menschen wurden aus den Zügen getrieben und binnen
weniger Stunden in Gaskammern ermordet. Die Gedenkstätte Sobibór wird derzeit neu gestaltet.
Gedenkallee in Sobibór – die individuell gestalteten Gedenksteine erinnern an die rund 250.000 Menschen,
die hier in Gaskammern ermordet wurden.
Am 15. Juni 1942 wurden 1.003 jüdische Männer, Frauen und Kinder aus dem Rheinland und Ruhrgebiet direkt nach
Sobibór verschleppt und ermordet. Unter ihnen befand sich auch Selma Pardis aus Düsseldorf, an deren Schicksal
nunmehr – stellvertretend für alle anderen Ermordeten – dieser neu verlegte Gedenkstein erinnert.
Eingang zur Gedenkstätte des früheren Konzentrations- und Vernichtungslagers Majdanek, das
in der polnischen und der deutschen Erinnerungskultur eine größere Rolle spielt als die Mordlager
Bełżec und Sobibór. In Deutschland wurden nur wenige Täter des SS-Wachpersonals im
„Majdanek-Prozess“ in Düsseldorf (1975-1981) verurteilt.
Weitere Fotos finden Sie auf der FB-Seite des Fotografen Sugata Tyler (HSD)
https://www.facebook.com/sugatatyler/posts/1654255797947995
Weiterführende Informationen
Bildungswerk Stanislaw Hantz
Gedenkstätte Majdanek
Gedenkstätte Sobibór
Gedenkstätte Bełżec
TeatrNN
Mit freundlicher Unterstützung
Polnisches Institut Düsseldorf
IBB (Dortmund)
Bethe-Stiftung
AStA Hochschule Düsseldorf
Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf
Bezirksregierung Arnsberg
Bezirksregierung Düsseldorf