Gedenkstättenseminar in Łódź (30.6.-4.7.2025): Auf den Spuren der von Düsseldorf aus deportierten Jüdinnen und Juden
Am 26. Oktober 1941 mussten sich auf Befehl der Gestapoleitstelle Düsseldorf 1.003 jüdische Männer, Frauen und Kinder am Düsseldorfer Schlachthof einfinden. Es war die erste von insgesamt sieben Deportationen, bei denen der Schlachthof als Sammelstelle benutzt wurde. Die Menschen kamen aus größeren und kleineren Städten der ganzen Region: Duisburg, Düsseldorf, Essen, Goch, Hilden, Kleve, Krefeld, Langenberg, Mettmann, Mönchengladbach, Neuss, Oberhausen, Opladen, Schiefbahn, Viersen und Wuppertal. In der Viehhalle wurden sie von Gestapobeamten und SS-Leuten brutal zusammengetrieben, angeschnauzt und registriert. Ihr Gepäck wurde durchsucht, dabei vieles konfisziert, die Wohnungsschlüssel abgenommen. Das zurückgelassene Hab und Gut versteigerten später die lokalen Finanzämter. Nach einer Nacht in der eben vom Vieh verlassenen Halle wurden die Menschen unter Polizeibewachung – und vor aller Augen – zum nahe gelegenen Güterbahnhof getrieben, von wo der Transport losfuhr. Nach zwei Tagen kamen sie am Bahnhof „Radegast“ im Ghetto Litzmannstadt an – so hatten die deutschen Besatzer die Textilmetropole Łódź umbenannt.
Die Deportierten hatten keine Vorstellung davon, was sie im Ghetto erwartete. Das Ghetto Litzmannstadt lag im damaligen „Warthegau“, den das Deutsche Reich nach dem Überfall auf Polen annektiert hatte. Es war eins der größten Ghettos im eroberten Polen, rund um den Stadtteil Bałuty eingerichtet, in dem die Besatzer rund 160.000 polnische Jüdinnen und Juden aus Łódź und der Umgebung eingepfercht hatten. Eine der wenigen Überlebenden des Düsseldorfer Transports, Flora Herzberger aus Mönchengladbach, erinnerte sich später: „Wir mussten den Zug verlassen und ein endloser Zug von Menschen bewegte sich durch schmutzige Gassen, an verdunkelten Häusern vorbei, ins Ghetto von Łódź. Ich sah die riesigen, geisterhaften Brücken, die das Ghetto vom Rest der Welt trennten, und wusste: Wir waren gefangen, völlig der Gnade unserer Mörder ausgeliefert.“
Im Rahmen unseres Gedenkstättenseminars haben wir uns auf die Spuren der aus Düsseldorf in das Ghetto Litzmannstadt deportierten Menschen begeben: Studierende der HSD und von anderen Hochschulen, Kolleg*innen aus der Gedenkstättenarbeit und andere interessierte Menschen. Organisiert wurde die Fahrt vom Erinnerungsort Alter Schlachthof, in bewährter Zusammenarbeit mit dem Verein Zeitreisen e.V., mit Unterstützung des Heinz-Kühn-Bildungswerks, der Evangelischen Studierendengemeinde Düsseldorf, der NS-Dokumentationsstelle der Stadt Krefeld und der Landeszentrale für politische Bildung NRW, die die inhaltliche/organisatorische Vorbereitung der Fahrt ermöglicht hat.
Begleitet wurden wir während unseres Aufenthaltes in Łódź vom 99jährigen Holocaust-Überlebenden Leon Weintraub, seiner Frau Evamaria und seinem Sohn Robert. Leon berichtete uns nicht nur ausführlich von seinen Erlebnissen, seinem (Über)Leben im Ghetto und von der Zeit danach, als er als 20jähriger in Göttingen anfing, Medizin zu studieren und später Frauenarzt in Warschau, ab 1969 in Stockholm wurde. Er begleitete uns zu vielen Orten und stand immer wieder für Rückfragen der interessierten Teilnehmer*innen zur Verfügung.
Nach einem Vorbereitungstreffen in Düsseldorf, auf dem wir uns mit den Grundzügen der nazistischen Besatzungs- und Vernichtungspolitik in Polen beschäftigten, sowie mit der Vorgeschichte des „Düsseldorfer Transportes“ und dem heutigen Erinnerungsort Alter Schlachthof, standen in Łódź und Umgebung verschiedene Stationen auf dem Programm. Intensiv erkundeten wir gemeinsam mit dem Kollegen Roland Vossebrecker (Bildungswerk Stanislaw Hantz) maßgebliche Orte in Łódź bzw. auf dem Gebiet des damaligen Ghettos Litzmannstadt: das Gebäude der deutschen Ghetto-Verwaltung, verschiedene Standorte der jüdischen „Selbstverwaltung“ des Ghettos (wie die Einsiedlungs-/Aussiedlungskommission), das „Rote Haus“, Sitz der deutschen Kripo im Ghetto, wo zahllose Menschen misshandelt und ermordet wurden, das ebenfalls noch erhaltene Gebäude der Gestapo und der deutschen Schutzpolizei, die das mit Stacheldraht umzäunte Ghetto bewachte... Von Anfang an galt ein Schießbefehl, so sollte jeder Fluchtversuch, jede Widersetzlichkeit gegenüber der Polizei mit der Schusswaffe vereitelt werden. Die Ghetto-Insass*innen waren der Willkür und der Raublust der deutschen Polizeikräfte wehrlos ausgeliefert.
An der damaligen Feuerwache hörten wir Auszüge aus einer berühmt-berüchtigten Rede des damaligen „Ältesten“ der Juden im Ghetto Litzmannstadt, Chaim Rumkowski. Im September 1942 hatten die deutschen Besatzer ihm aufgetragen, 20.000 Menschen aus dem Ghetto auszusiedeln, darunter Tausende Kinder unter 10 Jahren – sie erschienen den Besatzern als „unnütze Esser“. Rumkowski, dessen Devise es war, möglichst viele Insass*innen des Ghettos in Arbeit zu bringen, damit sie möglichst produktiv und somit vor den gefürchteten „Aussiedlungen“ geschützt seien, schaffte es zwar, die Zahl der auszuliefernden Menschen herunterzuhandeln. Doch er sah sich verpflichtet, den Befehl der deutschen Besatzer auszuführen, um, wie er meinte, Schlimmeres zu verhindern. Er hielt auf dem Platz vor der Feuerwache die wohl schwerste Rede seines Lebens: „Ich muss diese schwere und blutige Operation durchführen, ich muss die Gliedmaßen abtrennen, um den restlichen Körper zu erhalten! Ich muss euch die Kinder nehmen, denn wenn nicht, könnten auch andere genommen werden. [...] Väter und Mütter, gebt mir Eure Kinder!“
Im Ghetto spielten sich anschließend, wie auch schon bei anderen „Aussiedlungsaktionen“, fürchterliche Szenen ab, als deutsche Polizei- und SS-Einheiten durch die Straßen und Wohnungen zogen, um mit größter Brutalität die geforderte Zahl an „Auszusiedelnden“ zusammen zu treiben.
Unweit von der Feuerwache, in der damaligen Fischstraße 15 und 21 (heute: ul. Rybna), befand sich die Kollektivunterkunft des Düsseldorfer Transports. In zwei früheren Schulgebäuden waren die 1.003 aus Düsseldorf Deportierten zusammengepfercht worden: „In nicht sehr großen Räumen, etwa 50 bis 60 Personen, waren wir eingepfercht. Jeder suchte sich einen Platz zum Hinlegen, und eingehüllt in unsere Mäntel, wie Sardinen in der Dose, versuchten wir zu schlafen“, erinnerte sich später Flora Herzberger. Transportleiter war der 59jährige Düsseldorfer Rabbiner Dr. Siegfried Klein, ein ehemaliger Frontkämpfer. Er kümmerte sich um die Ernährung der Bewohner*innen, organisierte mit anderen und in Verbindung mit der Ghettoverwaltung den Arbeitseinsatz der Arbeitsfähigen, und beriet sich als „Sprecher“ des Kollektivs mit Vertretern anderer Kollektive – denn aus vielen anderen deutschen Städten (Köln, Hamburg, Berlin usw.) waren Tausende Jüdinnen:Juden in das Ghetto gebracht worden. Das Verhältnis zwischen den polnischen Jüdinnen:Juden und den deutschen Neuankömmlingen war angespannt: Das Ghetto war vollkommen überfüllt, die Ernährungslage katastrophal, neue Bewohner*innen nicht willkommen. Siegfried Klein überlebte die zahlreichen „Aussiedlungsaktionen“ des Jahres 1942 – aber im August 1944, als das Ghetto aufgelöst wurde, wurde er wie viele andere nach Auschwitz verschleppt und dort ermordet.
Bis zum Sommer 1942 starben rund 100 Angehörige des „Düsseldorfer Kollektivs“, vor allem ältere Menschen, an den katastrophalen Lebensbedingungen im Ghetto (unter Siegfried Kleins Ehefrau Lilli ). Hunderte der Deportierten wurden dann im Mai 1942 aufgrund der Überfüllung des Ghettos „ausgesiedelt“, d.h. in das ca. 70 km entfernte Kulmhof gebracht, wo die Nazis im Dezember 1941 die erste Stätte zur systematischen Vernichtung von Jüdinnen:Juden im eroberten Polen eingerichtet hatten.
Zu den ersten Opfern in Kulmhof gehörten rund 4.300 als „Zigeuner“ verfolgte Rom:nja und Sinti:zze aus dem „Burgenland“ (Österreich). Etwa 5.000 waren im November 1941 in das Ghetto Litzmannstadt deportiert worden. Sie waren bereits zuvor in Lagern eingesperrt und kamen bereits geschwächt in Litzmannstadt an, einige waren schon während des Transportes gestorben. Im Ghetto wurden sie in einem eigenen Bereich eingepfercht. In wenigen Wochen starben Hunderte Menschen an Unterernährung bzw. einer sich rasch ausbreitenden Fleckfieberepidemie. Bis zum 9. Januar 1942, als das Lager aufgelöst wurde, wurden die Überlebenden in Kulmhof ermordet.
In einem Workshop lernten die Teilnehmer*innen anhand von überlieferten Berichten, Dokumenten, Postkarten usw. verschiedene Lebensläufe aus dem Düsseldorfer Transport kennen, neben Flora Herzberger z.B. Aenne und Arthur Cohen sowie Hugo und Johanna Löwenstein aus Düsseldorf, Erwin Liffmann aus Mönchengladbach, der zu den insgesamt 13 Überlebenden des Transports gehört – aber auch einige Täter, wie etwa den zeitweiligen Gestapochef Herbert Weygandt, der nach seinem Einsatz in Łódź Ende 1942 nach Düsseldorf versetzt wurde und sich nach dem Krieg einer Verurteilung entziehen konnte. Der „Judenreferent“ der Gestapo Litzmannstadt, Günter Fuchs, arbeitete nach 1945 im Vertriebenenministerium in Niedersachsen, als ihn 1960 ein Überlebender erkannte. Fuchs, der die brutalen „Aussiedlungen“ angeleitet und eigenhändig hunderte Menschen ermordet hatte, wurde zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt, allerdings 1980 vorzeitig entlassen.
Eine Arbeitsgruppe (mit einigen Studierenden der HSD) befasste sich mit dem „Jugendverwahrlager Litzmannstadt“, in dem polnische Kinder und Jugendliche eingesperrt waren, die jüngsten waren vier Jahre alt. Ziel war, die deutschen Jugendlichen in „Litzmannstadt“ vor angeblich „asozialen“, „herumstreunenden“ polnischen Kindern zu „schützen“. Hunderte von Kindern überlebten das wie ein KZ geführte Lager, in dem Fürsorgekräfte die Aufsicht hatten, nicht. Es befand sich am Rand des damaligen Ghettos und wurde auf Anordnung der deutschen Kriminalpolizei sowie des Reichsinnenministeriums eingerichtet (verantwortlicher Referent war Hans Muthesius, zuständig für die Jugendwohlfahrtspflege, nach dem Krieg u.a. von 1950-1964 Vorsitzender des Vereins für öffentliche und private Fürsorge – ein „Pionier“ der Sozialen Arbeit). Gerade die Studierenden der HSD nutzen hier die Möglichkeit, sich mit einem wenig bekannten Abschnitt der Geschichte ihrer Profession auseinanderzusetzen.
„Umschlagplatz“ bei den Deportationen nach Kulmhof war der Bahnhof „Radegast“, am Rande des Ghettos gelegen, der heute eine würdige Gedenkstätte beherbergt, die allerdings erst im Jahr 2005 fertiggestellt wurde. Überhaupt sehen wir im heutigen Stadtbild relativ wenige Zeugnisse der Erinnerung an die deutsche Besatzung aus der kommunistischen Zeit in Polen. Die meisten Gedenktafeln und Denkmäler wurden in späterer Zeit angebracht oder eingerichtet, etwa eine kleine Gedenkstätte am damaligen „Zigeunerlager.“
Eine neue Einrichtung, die sich der Geschichte der Jüdinnen und Juden in Łódź widmet, ist das Marek Edelman Dialogue Centre, in dem eine Ausstellung über das Ghetto Łódź zu besichtigen ist. Leon Weintraub ist hier regelmäßig zu Gast, und steht interessierten Gruppen als Zeitzeuge zur Verfügung. Im umliegenden Park wurden zu Ehren der Überlebenden des Ghettos über 600 Bäume gepflanzt – einer von ihnen für Leon. An mehreren Stellen im Park beobachteten (und entfernten) wir antisemitische bzw. israelfeindliche Sticker und Aufkleber. Hier wie andernorts missbrauchen Antisemit*innen den Krieg im Nahen Osten, um an Orten, die den im Holocaust verfolgten und ermordeten Jüdinnen und Juden gewidmet sind, ihrer menschenverachtenden Ideologie freien Lauf zu lassen.
In Dobra, einem kleinen Ort in der Nähe von Łódź, lud Leon Weintraub, dessen Familie zu einem großen Teil aus Dobra stammte, die Teilnehmer*innen der Fahrt zu einem festlichen Essen ein. Ein Gedenkort erinnert auf dem Platz der früheren Synagoge und des jüdischen Friedhofs von Dobra an die damalige große jüdische Gemeinschaft dieses Ortes. Sie machte 80% der Bevölkerung aus und wurde von den deutschen Besatzern fast vollständig ausgelöscht. Leon Weintraub hatte sich seinerzeit für die Errichtung des Gedenkortes eingesetzt und wurde vom Bürgermeister des Ortes und von vielen Freund*innen und Bekannten herzlich empfangen.
Großen Eindruck hinterließ bei allen Teilnehmer*innen der Besuch des Gedenkortes der damaligen Mordstätte Kulmhof (Chełmno), wo die deutschen Besatzer in den Jahren 1942-1944 rund 150.000 Menschen mit Gaswagen ermordeten, darunter etwa 80.000 Jüdinnen:Juden aus dem Ghetto Litzmannstadt. Die grausame, von deutschen Experten des Reichskriminalamtes ersonnene Technik des Massenmords mit Gaswagen, die heimtückischen Täuschungsversuche der Mörder, die den Menschen vorgaukelten, sie würden zu weiterem Arbeitseinsatz umgesiedelt oder kämen an einen sicheren Ort, die Massengräber im nahe gelegenen „Waldlager“, die die Täter vor Kriegsende öffnen ließen, um die Spuren ihrer Taten zu verwischen – all dies bestürzt um so mehr, als wir wissen, dass die Mehrzahl der Täter straffrei davonkam oder nur zu lächerlich geringen Strafen verurteilt wurde.
Es gibt keinen Trost angesichts dieser Abgründe. Neben der Trauer und der Wut über die unfassbaren Verbrechen, deren bis in die Gegenwart reichenden Spuren wir in dieser intensiven Woche besichtigen konnten, trat aber doch auch dies: die Vergewisserung, dass diese Verbrechen niemals der Vergessenheit anheim fallen dürfen, das Bewusstsein für die Notwendigkeit, an die Verfolgten und Ermordeten zu erinnern, die Bereitschaft, sich gemeinsam zu engagieren gegen die allerorten wachsende rechtsextreme und nazistische Bedrohung, gegen Antisemitismus und Rassismus – oder, wie Leon Weintraub appellierte: für die Demokratie zu kämpfen. Nicht gleichgültig zu sein. Mensch zu bleiben.
Text: Joachim Schröder
Abbildungen: © Erinnerungsort Alter Schlachthof und Zeitreisen e.V.
Gruppenbild: Leon, Evamaria und Robert Weeintraub mit Mitarbeiter*innen des Erinnerungsortes Alter Schlachthof